Wo die Zeit still steht
„Andere fahren jedes Jahr nach Italien, wir wollen eben wieder nach Tschernobyl“
Am 26. April 1986 explodierte im Kernkraftwerk Tschernobyl nahe der ukrainischen Stadt Prypjat ein Kernreaktor. Weite Teile Europas wurden mit radioaktivem Niederschlag verseucht, die Menschen vor Ort mussten ihre Heimat verlassen. Nach wie vor ist das Gebiet im Umkreis von 30 Kilometern um das Kraftwerk Sperrzone. Die Amberger Fotografen Nina Schütz und Toby Janner haben die Stimmung in der Sperrzone mit der Kamera eingefangen. Entstanden sind Bilder, die einen so schnell nicht loslassen – und Geschichten erzählen, die schon längst vergessen schienen.
Die Farbe an den Wänden hat sich gelöst, der Lack auf den Möbeln ist abgeblättert. Auf den Schulbänken befindet sich eine zentimeterdicke Staubschicht. Und doch liegen die Bücher noch aufgeschlagen im Klassenzimmer, als hätten Lehrer und Schüler dieses gerade eben erst verlassen. Unterricht gab es in der Mittelschule von Prypjat jedoch seit inzwischen 31 Jahren keinen mehr. Einen Tag nach der Nuklearkatastrophe wurden in der ukrainischen Stadt, die etwa so groß war wie Amberg, alle Einwohner evakuiert. Seitdem sind alle Gebäude verlassen. Wo vor einigen Jahrzehnten noch geschäftiges Treiben herrschte, steht heute die Zeit still.
Das ist eine ganz andere Art von Verfall, wie man ihn hierzulande sieht“, erzählt Nina Schütz, die seit Jahren sogenannte „Lost Places“ fotografiert. „Das Zeug rostet langsam vor sich hin, die Wände bröckeln ab. Keiner hat hier etwas zerstört, es ist ein natürlicher Verfall. Ich finde es schön zu sehen, wie die Zeit an diesen Gebäuden arbeitet …“ Mit der Reise nach Tschernobyl ging für sie und ihren Freund Toby Janner ein großer Traum in Erfüllung. Mit jeder einzelnen Aufnahme kommen wieder Erinnerungen hoch an diesen Ort, der so viele Geschichten zu erzählen hat. An ein Krankenhaus, an dem seit 31 Jahren die Medikamente unberührt in den Schränken stehen. An einen Vergnügungspark, wo nie lachende Kinder im Autoscooter Platz nehmen durften, sich die Gondeln des Riesenrades nie gedreht haben. Denn bevor der Park eingeweiht werden konnten, kam es zur Katastrophe. Heute noch zählt der geteerte Volksfestplatz zu den meist verstrahlten Gebieten in Prypjat.
„Schon bei unserer Ankunft in Kiew haben wir ein Dosimeter bekommen, das war dann auch immer an, wenn wir in der Sperrzone unterwegs waren“, erzählt Toby. „Mehr Schutz hatten wir nicht. Aber wenn man nicht zu den Hot Spots läuft und denkt, man müsse alles Mögliche anfassen oder irgendwelche Sachen rausziehen, dann ist es nahezu ungefährlich.“ Die beiden Fotografen und deren Reisegruppe waren jedoch nicht die Einzigen, die sich in und um Tschernobyl aufhielten. „Ich dachte vorher immer, da sei alles ausgestorben“, meint Nina. „Doch es war da mehr los als erwartet. Es arbeiten ja noch rund 3000 Menschen im Kraftwerk, außerdem sind viele Lkws unterwegs, die Holz und Schrott transportieren. Und immer wieder kommen Busse mit Touristen.“
Die beiden Amberger wollen auf jeden Fall noch einmal in die Sperrzone, dann aber ohne Gruppe. „Andere fahren jedes Jahr nach Italien, wir wollen eben wieder nach Tschernobyl“, sagt Toby und lacht.
Doch bis es so weit ist, müssen sich Nina und Toby noch etwas gedulden. Die nächsten Monate stehen erst einmal andere Projekte an. Zum Beispiel arbeitet Nina an einem Fotoband über verlassene Orte in der Oberpfalz, der im September erscheinen soll. Auch eine Ausstellung ist geplant: Vom 16. Oktober bis zum 3. November sind die besten Tschernobyl-Fotos in der Sparkasse Schwandorf zu bestaunen.
Wer mehr von der faszinierenden Reise der beiden Amberger sehen möchte, kann ihre Bilder auch auf ihrer Seite „Stillstand“ auf Facebook anschauen. Evi Wagner